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Einblicke in die Arbeit des Dresdner Handlungsprogramms auf dem Blog "Diverse Kindheiten".

Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ – ein kommunales Programm zur Unterstützung von Kitas in belasteten Sozialräumen

| Annekatrin Lorenz und Silke Stöcker |

Kindertageseinrichtungen übernehmen neben der Familie eine wachsende Verantwortung für die Bildung und Entwicklung von Kindern im Vorschulalter. Sie bieten Kindern einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen können und die Chance, sich nach ihren Interessen und Neigungen zu entfalten, Wissen anzueignen, Vielfalt zu erleben und soziale Erfahrungen zu sammeln.

Pädagogische Fachkräfte stellen sich der Aufgabe, den Potenzialen und besonderen Bedürfnissen aller Kinder gerecht zu werden. Sie stehen dabei vor der Herausforderung, die individuellen Lebenslagen der Kinder noch stärker als bisher in den Blick zu nehmen, um den Alltag in der Kindertagesstätte für alle Kinder anschlussfähig zu machen.

Was will das Projekt? Was ist das Phänomen?

Kitas in Stadträumen mit einer hohen Verdichtung sozialer Problemlagen sind in mehrfacher Weise herausgefordert. Sie begleiten eine hohe Anzahl an Kindern mit schwierigen Aufwachsensbedingungen (Armutslagen, psychisch erkrankte Eltern, Flucht- und Migrationserfahrung) und den damit verbundenen Risiken und Folgen für ihre Entwicklung. Zugleich sind die Kitas dadurch oft strukturell und fachlich besonders beansprucht. Beide Risikolagen, die auf Seiten der Kinder und Familien, wie auch auf Seiten der Institution, verdichten sich und schaukeln einander gegenseitig auf (Doppelkumulation, vgl. Sehm-Schurig 2023).

Das Dresdner Handlungsprogramm möchte Kitateams darin unterstützen, diesen Herausforderungen fachlich gestärkt zu begegnen und die Kita zu einem guten und sicheren Lern- und Entfaltungsort für alle Kinder mit ihren je individuellen Bedürfnissen und Vorerfahrungen zu entwickeln. Der Blick liegt aber auch darauf, was pädagogische Fachkräfte brauchen, um der andauernden Beanspruchung gut gewachsen zu sein und die eigenen Ressourcen zu erhalten.

Wie sind wir vorgegangen?

Seit 2008 werden im Abstand von 3 bis 5 Jahren Kitas nach einrichtungs- und stadtteilbezogenen Sozialdaten für die Beteiligung am Programm ausgewählt (Dresdner Mehrbedarfsindex). In den auf diese Weise vorausgewählten Kitas werden Gruppendiskussionen mit mindestens der Hälfte des Teams geführt, um deren Binnenperspektive auf die Situation der Einrichtung und die Lebenslagen der Kinder und Familien, die sie betreuen, zu erfassen. Dieser partizipative Ansatz dient der Validierung der statistischen Vorauswahl, führt aber auch zu einer ersten Sensibilisierung der Pädagog*innen für die Ziele und inhaltlichen Orientierungen im Programm und unterstützt damit die Motivation für die Beteiligung.

Abbildung 1 Struktur im Dresdner Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ (eigene Darstellung)

Das Kompetenz- und Beratungszentrum (KBZ) begleitet die Einrichtungen in ihren je unterschiedlichen Entwicklungswegen mit dem Ziel, eine lebenslagenorientierte Alltagspraxis zu entwickeln, Teilhabebarrieren aufzuspüren und abzubauen. Fachliche Grundlage hierfür ist das Entwicklungskonzept „Lebenslagensensible Kindertageseinrichtung“ (Lorenz, Stöcker et.al. 2021).

Die zusätzlichen Ressourcen für die beteiligten Kitas bestehen darüber hinaus in einer*einem sozialpädagogischen Mitarbeiter*in (SPMA) und erhöhter verfügungsfreier Zeit für das Team. In den 14 Kitas, die auf den höchsten Rängen im sog. Mehrbelastungsindex stehen, wurde das Personal um bis zu 70% in der Kernzeit aufgestockt, es erfolgt eine sehr dichte Prozessbegleitung und ein erhöhtes Sachkostenbudget steht zur Verfügung (Aktionsplan „zusätzliche Ressourcen – Kita²“).

Was ist das Ergebnis?

Schritt 1: Etablierung der Funktionsstelle der SPMA

Die zusätzliche Stelle eines/einer sozialpädagogischen Mitarbeitenden war zunächst Kernelement im Handlungsprogramm. Sie ergänzt die frühpädagogische Perspektive und deren Wirkungsfeld in den Programmeinrichtungen, indem sie den Blick auf Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheiten in den pädagogischen Alltag einbringt. Die Umsetzung der Programmziele liegt nicht auf den Schultern dieser einzelnen Person, sondern wird vom gesamten Team der Einrichtung getragen.

Die Aufgabenfelder der/des SPMA liegen auf den Wirkungsebenen der Kinder, der Familien, des pädagogischen Teams sowie der Vernetzung im Sozialraum.

Schritt 2: Schaffung von Reflexionsräumen

Die Mitarbeiter*innen des KBZ unterstützten die Kita-Teams darin, sich für den kollegialen Austausch Freiräume zu erschließen und Kompetenzen anzueignen. Zu diesem Zweck wurde auch die Vernetzung der beteiligten Einrichtungen untereinander befördert und durch entsprechende Formate flankiert (Leitungscurriculum, Austauschformate für Leitungsteams und Reflexionsgruppen).  

In diesen Diskursräumen werden sich schwierig gestaltende Entwicklungsbegleitungen von Kindern und Familien und mögliche Ursachen in der familiären Lebenssituation reflektiert. Aber auch die eigene pädagogische Praxis wird dabei kritisch in den Blick genommen: an welcher Stelle behindern unsere Abläufe und Strukturen, aber auch die Form und Ausgestaltung unserer Angebote kindliche und familiäre Teilhabe und wo reproduzieren wir somit soziale Ungleichheiten?

Schritt 3: Erkundung und Beantwortung von spezifischen Fortbildungsbedarfen

Das KBZ bietet im Rahmen einer einrichtungsbezogen geplanten Fortbildungsstrategie fachlichen Input für die Teams (Inhouse und übergreifend), bspw. zum Lebenslagenkonzept, Kinderarmut, Umgang mit familienkultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit, Kinderrechte und institutioneller Kinderschutz, Traumapädagogik, Resilienz bei Kindern und Fachkräften u.v.m. Es etabliert Formate für den kollegialen fachlichen Austausch (Kollegiale Beratung, Kindbesprechung) und erarbeitet passgenau Fachempfehlungen, Methoden und Praxishandreichungen.

Schritt 4: Etablierung zielgruppenorientierter Angebote und Netzwerkarbeit

Aus den Reflexionen der pädagogischen Alltagspraxis werden Handlungsableitungen für die Gestaltung einer passfähigeren Angebotsstruktur für Kinder und Familien getroffen. Kinder, die in unsicheren Beziehungen aufwachsen, brauchen in der Kita verlässliche Bezugspersonen, vorhersehbare (Tages-)Strukturen und entwicklungsangemessene Partizipationsmöglichkeiten. Insbesondere wenn Beziehungsangebote nicht kontinuierlich gesichert werden können, bieten Visualisierungen von Abläufen/Übergängen im Kita-Alltag, vertraute Peers und räumliche Gegebenheiten wichtige Anker.

Für vielfältige Bildungsanregungen und um Kindern Erfahrungen anzubieten, die sie ggf. im familiären Umfeld nicht machen können, gibt es etablierte Kooperationen im Sozialraum (Abenteuerbauspielplatz, Familientreffs, Sportvereine, Kletterhalle). Spezifische Angebote berücksichtigen die besonderen Situationen der Familien (Krabbelgruppe für Geschwisterkinder, Vorlesetag in Familiensprachen, gemeinsames Wandern, Unterstützung bei Anträgen und Behördenkontakten). Mit Familientreffs-/beratungsstellen, dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst, Horten und Schulen wurden fallunabhängige Kooperationen etabliert.

Schritt 5: (Weiter)Entwicklung einer lebenslagenorientierten frühpädagogischen Praxis

Grundlage einer zielgerichteten und lebenslagenorientierten Entwicklungsbegleitung von Kindern ist eine ressourcenorientierte Beobachtungspraxis und systematische pädagogische Planung. Die Strukturen in den Einrichtungen und die vorliegenden Konzepte und Methoden machten beides bislang nur unzureichend realisierbar. Das Kompetenz- und Beratungszentrum hat in den letzten Jahren gemeinsam mit Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen an der Entwicklung einer praxistauglichen pädagogischen Diagnostik und anschlussfähigen Planung von Bildungsanregungen gearbeitet, das über sozialpädagogisches Fallverstehen angereichert und qualifiziert wird. Hierfür ist aktuell ein spezielles Format der lebenslagenorientierten Kindbesprechung in der Erprobung, welches u.a. auf den Ergebnissen von Frühwarnscreening und Entwicklungsbeobachtung aufbaut und Informationen über die Lebenslage des Kindes systematisch einbezieht. Auch die Ableitungen von Bildungsanregungen werden lebenslagenorientiert strukturiert und aufgebaut.

Was kann das für Praxis und Forschung bedeuten?

Zusammenfassung

Gelingensbedingungen im Dresdner Programm sind folgende Aspekte:

  • Engagierte, von der Idee überzeugte Akteure mit fachlichem Anspruch auf allen Ebenen (päd. Fachkräfte, Leitung, Träger, Kommune, Kooperationspartner)
  • Zusätzliche Ressourcen für eine stringente, engmaschige externe fachliche Begleitung der Kitas
  • Frühzeitige Beteiligung und Sensibilisierung der Teams für das Anliegen und die Implikationen
  • Stabile personelle und institutionelle Rahmungen als Voraussetzung für Bereitschaft und Offenheit für Innovationsprozesse
  • Rahmenbedingungen für längerfristige Entwicklungsprozesse (kein kurzfristiges Modellvorhaben)

Pädagogische Prozesse und Strukturen in Kindertageseinrichtungen sind oftmals (noch) nicht anschlussfähig an die Heterogenität der Familienkulturen und individuellen Vorerfahrungen der Kinder, die heute und vor allem in sozial verdichteten Stadträumen in den Kitas begleitet werden.

Um Teilhabechancen zu erhöhen und Barrieren abzubauen, braucht es Wandlungsbereitschaft, Abenteuerlust und Flexibilität bei allen Beteiligten. Die zusätzlichen Ressourcen sind wesentliche Gelingensbedingung und erhöhen Motivation und Gestaltungsspielräume. Einige Impulse und Anregungen können aber auch jenseits von Programmen und Projekten umgesetzt werden.

Grundsätzlich sind wir davon überzeugt, dass es für die Arbeit in diesen Einrichtungen eines grundlegenden Konzepts einer lebenslagenorientierten Pädagogik bedarf. Der Einsatz von Sozialpädagog*innen ergänzt die Frühpädagogik in den Einrichtungen, ein lebenslagenorientiertes Konzept würde diese Expertise integrieren.

Lebenslagenorientiert ausgebildete Pädagog*innen reagieren auf einen stabilen fachlichen Bedarf innerhalb der Frühpädagogik. Die lebenslagenorientierte Motivation der Fachkräfte ist von vornherein und grundsätzlich Teil der Spezialisierung. Sie können in jeder Kita arbeiten, während es umgekehrt von der persönlichen Eignung und Motivation einzelner Fachkräfte abhinge, ob das in Kitas belasteter Sozialräume gelingt. Lebenslagenorientierte Pädagogik ist auf Dauer angelegt und nicht an Programme gebunden.

Literaturverweise

Programm-Website: https://aufwachsen-in-sozialer-verantwortung.de/

Lorenz, A., Stöcker, S. (2021). Das Handlungsprogramm „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ der Landeshauptstadt Dresden. 4. Fortschreibung 2020. Dresden, Deutschland. Zugriff am 30.05.2024 unter https://aufwachsen-in-sozialer-verantwortung.de/entwicklungskonzept

Sehm-Schurig, S. (2023). Bericht der Formativen Evaluation des Aktionsplanes „Erweiterte Ressourcen Kita²“. unveröffentlichter Evaluationsbericht


Sehm-Schurig, Sylvi (2024): Kitas in "sozialen Brennpunkten": Ist denen noch zu helfen? Ein kommunales Programm in Dresden geht neue Wege.

Artikel KiTa Aktuell Handlungsprogramm.pdf (422,4 KiB)

Grohmann, Sabine/Kluczniok, Katharina/Köhn, Anja/Sehm-Schurig, Sylvi (2024). Aktionsplan „Erweiterte Ressourcen Kita²“
Ein Handlungsprogramm in sozialräumlich belasteten Kitas in Dresden mit Innovationspotential. In: Frühe Bildung. Jahrgang 13, Heft 1, Januar 2024.

Drößler, Thomas/Schneiderat, Götz/Sehm‐Schurig, Sylvi (2015). „Dass das nicht alles auf den Schultern der Erzieherin liegen muss […]“ Der sozialpädagogische Auftrag in der Kita und die Perspektiven im Dresdner Handlungsprogramm. ABSCHLUSSBERICHT ZUM PROJEKT Evaluation des kommunalen Handlungsprogramms „Aufwachsen in sozialer Verantwortung“ der Landeshauptstadt Dresden (unveröffentlicht)

Drößler, Thomas/Sehm-Schurig, Sylvi: „Familientreffen. Soziale Arbeit und Frühpädagogik als komplementäre Berufsgruppen in Kindertageseinrichtungen?“ (S. 203-233) in: Fröhlich-Gildhoff, Klaus/Nentwig-Gesemann, Iris/Betz, Tanja/Viernickel, Susanne (Hrsg.): Institutionalisierung früher Kindheit und Organisationsentwicklung. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre (Freiburg) 2016

Robert, Günther/Pfeifer, Kristin/Drößler, Thomas (Hrsg.): Aufwachsen in Dialog und sozialer Verantwortung. Bildung - Risiken - Prävention in der frühen Kindheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011